Wenn Kinder zur Schule gehen, ist das für Eltern häufig eine heikle Sache: Im Straßenverkehr ist die Sicherheit ihrer Kinder potenziell gefährdet. Einer Studie des Fachverbands Fußverkehr Deutschland zufolge bestätigt das: 55 Prozent und damit die Mehrheit der befragten Eltern haben in Bezug auf ihre Kinder Angst vor Verkehrsunfällen, sogar mehr als vor Kriminalität (40 Prozent) und Drogen (26 Prozent). Und das nicht ohne Grund: Verkehrsunfälle sind die häufigste Todesursache von Kindern, wie das Statistische Bundesamt auch für 2017 wieder bezeugte.
Das Projekt „Schutzranzen“ soll Abhilfe schaffen. Ins Leben gerufen hat es Volkswagen in Kooperation mit den Städten Ludwigsburg und Wolfsburg. In Wolfsburg, wurde es jedoch bereits aufgrund lauter Kritik beendet.
Per App oder GPS-Tracker im Schulranzen wird die Position der Schulkinder getrackt und an die „Schutzranzen“-Cloud geschickt. Falls eine potenzielle Gefahrensituation entsteht, also beispielsweise ein Kind in die Nähe eines fahrenden Autos gerät, wird der Fahrer, wenn er die App ebenfalls installiert hat, davor gewarnt – durch das „Onboard-System im Auto von morgen“, wie VW es nennt. Genauso können die Eltern per Smartphone über die Cloud den Standort ihres Kindes nachvollziehen.
Kritik: Kinder-Tracking mit Google Analytics
„Schutzranzen“ ruft nun allerdings Eltern, Datenschutzbeauftragte und andere Kritiker auf den Plan. Es geht um ein Sicherheitsrisiko durch die Datensammlung. Auf der Website des Projekts wird es als „eines der sichersten Angebote, was den Schutz und die Vertraulichkeit deiner Daten angeht“ beworben. Regelungen der Bundesrepublik Deutschland würden ebenso eingehalten wie die Datenschutzrichtlinien der EU. Daten würden nicht an Dritte weitergegeben.
Das sieht der Verein Digitalcourage anders, der in einem offenen Brief Bedenken formuliert, dass Daten an Google und Co. weitergeleitet würden. Die „Schutzranzen“-Website und -Apps würden beispielsweise Google Analytics benutzen, sodass Amazon, Facebook, Google und andere mitlesen könnten.
Der Verein weist außerdem, wie Netzpolitik.org berichtet, auf das Risiko von Server-Hacks hin. „Ein Hack würde genügen, um die aktuellen Aufenthaltsorte der Kinder herauszufinden.“ Außerdem zeige bereits das „Schutzranzen“-Werbevideo, wie durch die App abgelenkte Autofahrer die Risiken für die Schüler noch vergrößerten.
„Gier nach Daten“
Gegenüber Netzpolitik.org sagte Friedemann Ebelt von Digitalcourage: „Vom ‚Schutzranzen‘ haben selbst unter optimalen Bedingungen nur die Kinder etwas, die ihr Überwachungsgepäck bei sich tragen und einem smarten Fahrzeug begegnen. Dagegen würden alle Kinder von Schülerlotsen, verkehrsberuhigten Bereichen, Geländern und beleuchteten Gehwegen profitieren. Die großen gesellschaftlichen Probleme an Projekten wie ‚Schutzranzen‘ sind die Geschäftsmodelle der Unternehmen und ihre Gier nach Daten. Akute Probleme, wie Gefahren im Straßenverkehr, werden nicht grundsätzlich gelöst, sondern nur ausgenutzt, um Daten zu sammeln, auszuwerten und zu Geld zu machen.“
Über diese Risiken würden Eltern derweil nicht informiert. Digitalcourage wäre sogar eines Elterninformationsabends verwiesen worden, bei dem „Schutzranzen“ vorgestellt wurde. Sehr verbreitet scheint die App allerdings noch nicht zu sein: Google Play listet „10.000 bis 50.000“ Downloads, Apple macht keine Angaben.
„Totalüberwachung“
Die niedersächsische Landesbeauftragte für Datenschutz, Barbara Thiel, warnte ebenfalls vor der App: „Durch solche Dienste werden bereits Kinder frühzeitig damit konfrontiert, jederzeit überwacht und getrackt zu werden. Auch Kinder müssen das Recht haben, sich abhängig von ihrem Alter unbeobachtet fortbewegen zu können. Wenn Eltern jederzeit per Knopfdruck die Position ihrer Kinder erfahren können, stellt das eine Totalüberwachung dar.
Zudem könnte sich die Verkehrssicherheit insgesamt verschlechtern. Zum einen, wenn Autofahrer ‚blind‘ auf die App vertrauen und Kinder ohne Schutzranzen-App daher einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind. Zum anderen weil die Kinder blind darauf vertrauen, dass sie von den Autofahrern wahrgenommen werden und weder Gefühl noch eine Selbsteinschätzung für die Risiken des Verkehrs entwickeln.“
Stadt Ludwigsburg als Pilotprojekt
Als erste deutsche Stadt hat Ludwigsburg in einem Pilotprojekt im vergangenen Herbst flächendeckend digitale Schutzzonen und digitale Schülerlotsen um seine Grundschulen eingerichtet, um das Projekt zu unterstützen. Gewerbetreibende und Privatpersonen können Patenschaften im „Schutzranzen“-Projekt übernehmen. Für alle 16.000 Grundschulen in Deutschland stehen die Funktionen derzeit bereit.
Auf Nachfrage von futurezone teilte die Pressestelle der Stadt Ludwigsburg mit, der Verein Digitalcourage sei bereits auf sie zugekommen, um eine Stellungnahme einzufordern.
Dialog mit allen Beteiligten
Für die Stadt Ludwigsburg haben nicht nur beim Projekt „Schutzranzen“ der Datenschutz und die Datensicherheit die allerhöchste Priorität, insbesondere, wenn Kinder beteiligt sind. „Wir wollen alle angesprochenen Beteiligten in Ludwigsburg an einen Runden Tisch bringen, um die Argumente, die aus Sicht des Vereins gegen die Einführung des Projekts Schutzranzen sprechen, in sachlicher Form zu diskutieren“, so die Stadtverwaltung in der Stellungnahme.
„Dabei wollen wir gegebenenfalls gemeinsam nach Lösungen suchen, um das Projekt weiterhin voranzutreiben. Dafür bemühen wir uns von städtischer Seite, einen Termin mit Vertretern des Vereins, dem Landesdatenschutz, der Polizei, dem ADAC, der Schulbehörde sowie dem Elternbeirat in Ludwigsburg zu vereinbaren.“ Man suche den Dialog, um den Bedenken des Vereins Rechnung zu tragen.
Und weiter: „Wir setzen uns für mehr Sicherheit auf dem Schulweg in unserer Stadt ein. Seit September 2017 unterstützen wir dazu auch die Firma Coodriver bei der geplanten Einführung von „Schutzranzen“ in Ludwigsburg. Dafür bereiten wir gemeinsam mit Coodriver die Information der Schulen und Eltern vor, bis das Projekt in Ludwigsburg startet“, schreibt die Stadtverwaltung. Ein Termin dafür sei allerdings noch offen.
###Update: App-Entwickler Coodriver gibt Stellungnahme ab
Ende April hatte sich schließlich auch der App-Entwickler selbst in der Debatte zu Wort gemeldet. Coodriver reagiert vor allem auf die Bedenken des Vereins Digitalcourage, der die Tracking-Methoden von „Schutzranzen“ auch als erstes öffentlich in Frage stellte. Wichtigstes Fazit der Richtigstellung: „Die Schutzranzen Lösung hat zu keinem Zeitpunkt Daten gesammelt oder bereitgestellt, da sie von Anfang an so aufgebaut wurde, dass ein Sammeln von Daten nicht möglich ist.“ Digitalcourage habe seine angeblichen Falschaussagen schlicht einen „erfolgreichen Spendenaufruf für die eigene Sache gemacht“.
Die Richtigstellung kann in ihrer vollen Länge hier nachgelesen werden.
Verbraucherschützer: Tracking-Technik spaltet die Eltern
Mit einer Umfrage hatten sich schnell auch die Marktwächter Digitale Welt der Verbraucherzentrale NRW in die Diskussion eingebracht. Das Ergebnis: Nahezu die Hälfte der über tausend befragten Eltern von Kindern im Alter von drei bis 14 Jahren kann sich grundsätzlich eine Ortung wie das Schutzranzen-Tracking vorstellen. Doch für ebenso viele Befragte kommt, also auch nahezu die Hälfte kommt diese Form der Kontrolle gar nicht in Frage.
Der Grund: Viele Eltern haben Angst davor, dass Dritte auf ihre Daten zugreifen könnten. Deshalb verfolgt auch die Mehrheit (92 Prozent) den Standort ihres Kindes beziehungsweise ihrer Kinder nicht. Die befragten Eltern, die sich ein Tracking ihrer Kinder nicht vorstellen können, geben vor allem eine Begründung an: „Man muss seinen Kindern auch vertrauen können“ war laut den Marktwächtern mit Abstand (91 Prozent) die häufigste Nennung. Ganze 74 Prozent sehen in der Standortverfolgung außerdem ein Eindringen in die Privatsphäre der Kinder selbst. Die Hälfte ist sich sicher, dass ihre Kinder auch ohne Tracking sicher seien.
Sichere Kontrolle gegen reale Risiken
„Immer zu wissen, wo das eigene Kind steckt, klingt für besorgte Eltern sicher verheißungsvoll. Aber wir beobachten auch Risiken, die mit der Nutzung dieser Tracking-Technologie einhergehen“, teilte Miriam Rusch-Rodosthenous, Teamleiterin des Projekts Marktwächter in einer Pressemitteilung mit. Dass einige Anbieter von Tracking-Geräten für Kinder nicht sorgfältig darüber informieren, So informieren einige Anbieter nicht deutlich darüber, wie sie mit den erfassten Daten umgehen, deckte bereits die Bundesnetzagentur auf: Sie verbot den Verkauf von Kinderuhren mit Abhörfunktion und ist schon gegen mehrere Angebote im Netz vorgegangen.
Auch eine Untersuchung norwegischer Verbraucherschützer von GPS-Uhren hat gravierende technische Mängel aufgedeckt: So kann bei einigen Uhren etwa der Standort des Kindes manipuliert werden. In so einem Fall kann den Eltern ein Ort angezeigt werden, an dem sich das Kind gerade nicht befindet. Das Marktwächter-Team der Verbraucherzentrale NRW behält Tracking-Technologien und vernetzte Produkte für Kinder weiter im Blick und sammelt auch Beschwerden und Hinweise zum Thema. Auf der Website direkt können über ein Formular Beschwerden eingereicht werden.
Sicherheitslücke bereits geschlossen
Die Forschungsgruppe in Verteilten Systemen der Universität Hamburg hatte die Sicherheitslücke in der App entdeckt. Betroffen davon war allerdings nur eine vergleichbar kleine Gruppe von Testkunden, die folgende App-Versionen nutzten:
- Android Kind bis Version 1.1.5
- Android Fahrer bis Version 1.1.7
- iOS Kind bis Version 1.2.3
- iOS Fahrer bis Version 1.4.1
Der Angriff der Forschungsgruppe richtete sich gegen Sicherheitslücken bei Android und iOS. Beide Betriebssysteme lassen es zu, dass installierte Apps die Verifizierung des Server-Zertifikats umgehen. Das führt dazu, dass die bei Schutzranzen eingesetzte TLS-Verschlüsselung umgangen werden konnte. Der Angriff war also nicht aufgrund einer falschen Programmierung der Schutzranzen-App, sondern aufgrund der Verschlüsselungsproblematik bei den Betriebssystemen möglich.
Im Zuge des Angriffs konnten die Forscher alle geografischen Sektoren abrufen, in denen Schutzranzen-Tracker oder Smartphones mit Kinder-Apps aktiv waren. Die genauen Standorte der Tracker oder Kinder-Apps konnten sie aber nicht einsehen, ebensowenig wie viele Tracker oder Kinder-Apps sich in einem Sektor aufhielten.