„Wenn ich mal wieder zu Hause bin, werde ich mich sehr geändert haben“, heißt es in einem der über 90 Briefe, die der damals 33-jährige Soldat Max Breuer im Jahr 1942 auf seinem Weg nach Stalingrad an seine hochschwangere Frau geschrieben hat. Der in Wien lebende Filmemacher Ascan Breuer veröffentlicht die Post seines Großvaters nun 75 Jahre später auf Facebook und auf einer Website, jeweils am Tag von deren Entstehung.
200 Seiten Material
Es ist ein beachtliches Zeitdokument, das seit 5. Juni Stück für Stück das Licht der Öffentlichkeit erblickt und auf Facebook („Starless in Stalingrad“) bereits über 2.500 Follower hat. „Insgesamt umfassen die transkribierten Briefe rund 200 Seiten“, so der Regisseur, der 2015 vom Bundeskanzleramt mit einem „outstanding artist award“ ausgezeichnet wurde. „Ich habe mich nie so stark für den Krieg interessiert und habe die Auseinandersetzung mit den Briefen, die mir meine Tante überlassen hat, hinausgezögert“, so Breuer, dessen Großmutter nie über die Schriftstücke gesprochen hatte. Erst nach deren Tod entdeckte ihre Tochter das Vermächtnis des Vaters und begann, die Briefe zu digitalisieren. Mittlerweile findet sich das Konvolut im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden.
Veröffentlichung der Briefe in „Echtzeit“
Der 75. Jahrestag des ersten Briefs war für Breuer schließlich ein Motivator, sich den Texten zu widmen und sie im Rahmen seines Projekts „Dokumentarisches Labor“, mit dem er bereits Dokus wie das preisgekrönte „Jakarta Disorder“ realisiert hat, zu veröffentlichen. Wichtig war ihm, die Briefe nicht alle auf einmal, sondern in der Reihenfolge ihres Entstehens zu veröffentlichen. „Das Besondere dabei ist, dass man sein Schicksal Brief für Brief wie in Echtzeit miterlebt und selbst nicht weiß, wie es weiter geht. Das hat bisher bei den Lesern sowohl Fragen als auch Frustrationen erzeugt“, so Breuer über die bisherigen, durchaus auch emotionalen Reaktionen der Leser.
Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte
„Es macht einfach Spaß, sich in dieser virtuellen, sehr heterogenen Community zu bewegen“, erzählt Breuer von seiner Motivation. „Ich trete hier auch mit Menschen in Kontakt, mit denen ich nicht unbedingt in derselben Blase beheimatet bin.“ Dennoch kann er sich vorstellen, die Briefe in weiterer Folge auch dokumentarisch aufzuarbeiten und zu kontextualisieren. Es ist eine späte Auseinandersetzung mit einem in der Familie totgeschwiegenen Kapitel. „Meine Oma hat aber sehr wohl mit mir über die Nachkriegszeit und ihre eigene Rolle damals gesprochen. Aber mein Großvater blieb für mich immer ein weißer Fleck.“
Großvater wollte mit den Briefen seine Ehefrau beruhigen
Max Breuer, Reichsbankangestellter in Hamburg, wurde 1942 zunächst als Rechnungsprüfer seines Regiments eingesetzt und zog mit seinen Kameraden Richtung Stalingrad. Immer wieder sei er auch an den Kampfhandlungen beteiligt gewesen. Diese Beobachtungen haben ihn tief geprägt, wie aus den immer drastischer werdenden Briefen hervorgeht, in denen er zur selben Zeit versucht, seine Ehefrau zu beruhigen. „Kameradschaft ist ein Begriff, der überall, nur nicht in der Wehrmacht existiert. Die stehlen wie die Raben. Du müsstest nur mal sehen, wie die Brüder den Russen ihre letzten Hühner und Gänse vom fahrenden Auto aus abknallen. Heute kann ich manchmal verstehen, dass man die Deutschen als Barbaren bezeichnet.“
Veröffentlichung auf Facebook
Dass Ascan Breuer sich dafür entschieden hat, die Briefe auf Facebook zu stellen, hat auch zeitliche Gründe: „Mir fehlen die Kapazitäten, um das alles in eine wissenschaftliche Arbeit zu gießen. Was mich interessiert ist, dass ich mich nicht aus familiären Gründen damit auseinandersetze, sondern als Zeitgenosse.“ Schließlich würden wir derzeit auch in einer Zeit leben, „in der wir uns selbst in einem ständigen globalen Konflikt befinden; in einem Endloskrieg gegen den Terror. Und so wie mein Großvater versuchen wir, so unbeteiligt wie möglich zu sein“, spielt Breuer darauf an, dass „die Kriege, die angeblich stattfinden, um Frieden zu schaffen, derzeit bis zu uns getragen werden, etwa durch die große Menge an Flüchtlingen. Gleichzeitig tun wir so, als hätte es nichts mit uns zu tun und wurschteln uns durch.“
Auch sein Großvater Max – so wird es in den Briefen deutlich – habe sich abgeschottet und versucht, möglichst unbeteiligt zu wirken. „Ihn interessieren weder die Russen noch die Wehrmacht, er bezeichnet Kollegen als Barbaren, auch das Bombardement von Köln und Hamburg kommentiert er so unbeteiligt, wie man es sich gar nicht vorstellen kann“, resümiert Breuer. „Ihn interessiert nur die Familie: seine Frau, seine Tochter und sein ungeborener Sohn. Nicht Deutschland, nicht Russland. Viel geht ihm am Arsch vorbei, so wie uns heute.“