„Diese Stadt ist im ständigen Umbruch, da können wir gar nichts gegen tun“, sagt Moritz van Dülmen, weniger resignierend denn begeistert. „Dinge kommen auf und andere verschwinden.“ Er bewertet die Entwicklung Berlins nicht als Abwärtstrend, sondern als schlichten Veränderungsprozess. „Und daran sind nicht nur die ach so schlimmen Gentrifizierer beteiligt. Es entstehen auch mehr Arbeitsplätze und neue Wirtschaftszweige, neue Geschäftsmodelle. Jetzt beginnt die heiße Phase.“
Viele mögen es nämlich vielleicht nicht glauben, aber ja: In der Start-up-Hauptstadt Berlin geht noch was. Nämlich Wachstum. Einer Studie des Instituts für Strategieentwicklung (IFSE) zufolge werden die jungen Unternehmen in wenigen Jahren sogar Berlins größter Arbeitgeber sein. Denn schon heute beschäftigen sie insgesamt rund 13.200 Arbeitnehmer und nehmen damit die fünfte Stelle ein, gleich hinter den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) und noch vor Siemens. Die Zahl der Mitarbeiter in Start-ups hat sich in den vergangenen drei Jahren fast verdoppelt.
Die Wahrnehmung ändern – auch mit zehn Jahren Creative City Berlin
Mittendrin in diesem Gebilde steckt Creative City Berlin, kurz CCB. Es ist die zentrale Plattform für die Kreativwirtschaft. Sie wird am Mittwoch zehn Jahre alt und ist damit eine Art Urgestein der Berliner Unternehmerszene. Hinter der Plattform steht die Kulturprojekte Berlin GmbH, gegründet ein Jahr vor dem Projekt CCB.
Kulturprojekte-Geschäftsführer Moritz van Dülmen ist als Mitinitiator von Anfang an dabei und organisiert mit seinem Team unter anderem Großprojekte wie die Berlin Art Week, die Lange Nacht der Museen oder die Lichterkette beim Mauerfall-Jubiläum 2014. Der Münchner ist durchweg ein Mann der Kultur, angefangen von der Projektleitung bei den Städtischen Bühnen Augsburg über die Leitung der Stabsstelle Kultur und Medien der Landeshauptstadt Potsdam bis zur Kulturprojekte GmbH und seiner weiteren Position als Geschäftsführer des Landesverbandes der Museen zu Berlin (LMB), die er seit 2007 innehat.
„Als wir Creative City vor zehn Jahren gegründet haben, wurde bei weitem nicht so viel über sogenannten Start-ups gesprochen wie heute“, bestätigt van Dülmen weiter. „Man sprach früher einfach von Unternehmensgründungen. Start-up klingt natürlich cooler und peppiger. Dadurch und natürlich die enorme Zunahme neuer Geschäftsmodelle entsteht ein ganz neuer Wahrnehmungsfokus auf derartige Aktivitäten.“
Keine Zielgruppen vom Kino ausschließen – mit Apps für Blinde und Gehörlose
Zu diesen „derartigen Aktivitäten“ zählen auch die Start-ups von CCB. Eines davon ist Greta & Starks. Geschäftsführerin Seneit Debese war im Filmverleih-Geschäft tätig bis sie 2012 schließlich unter die Gründer ging. Barrierefreies Kino nennt sie das, was sie entwickelt hat: Während die App Starks parallel zum Film für hörbehinderte Zuschauer spezielle Untertitel auf dem Smartphone ausspielt, liefert Greta blinden Zuschauern – ohne das Smartphone – Untertitel, sogenannte Audiodeskriptionen, für die sie Kopfhörer verwenden können. Beide Anwendungen synchronisieren sich automatisch mit dem Film.
Natürlich gibt es OmU-Veranstaltungen in Kinos, also Filme in Originalversion mit Untertiteln. Deutsche Filme allerdings gibt es, Deberes zufolge, nie mit deutschen Untertiteln. „Es ist einfach nicht okay, im 21. Jahrhundert, bestimmte Zielgruppen auszuschließen und das auch noch für normal zu halten.“
„Die Kreativwirtschaft ist ein Treiber, nicht nur für Berlin, sondern auch für andere Bundesländer und auch ganze Nationen. Wir haben Anfragen aus Polen, Israel und Südkorea, es gibt Nachfrage nach den Lösungen der Start-ups“, gibt Deberes sich optimistisch. „Es kann viel erreicht werden.“
Was hat Kultur mit Technologie zu tun?
Erst einmal bringt das Projekt CCB Kreativ- und Kulturschaffende zusammen. Wie van Dülmen berichtet, schafft es die Plattform, branchenübergreifend zu vernetzen, sodass nicht nur „die Musikleute mit den Musikleuten“ zusammensitzen und sich austauschen, „sondern auch mal die Designer mit den Musikmachern“. Vernetzen über Vernetzen also. Van Dülmen bezeichnet sich auch deshalb lieber als „Kulturvernetzer“ statt Kulturmanager.
Und was hat das wiederum mit Technologie und Digitalisierung zu tun? „Die Kultur kommt heute durch Technologie zu ihrem Publikum. Wer früher ins Museum oder ins Theater ging, entschied sich ganz einfach an seiner oder ihrer Erziehung und dem Bildungsstand. Nun passiert durch Technologie eine Öffnung, die losgelöst von exklusiven Veranstaltungen und bildungsbürgerlichen Programmen ist. Es werden neue Formate und Themen wie Diversity und Migration aufgebrochen und unmittelbar zugänglich gemacht – für alle“, sagt van Dülmen.
Und was muss die Kultur dafür tun?
„Kultur muss rausgehen“, fordert van Dülmen, „mit neuen Angeboten für neue Zielgruppen.“ Das einzige Hindernis sei die Geschwindigkeit, mit der die Digitalisierung voranschreitet bzw. digitale Angebote erfordern. „Die Leute sind ständig unterwegs. Bei der Kultur geht es aber auch darum, auch mal Ruhe zu bewahren, um sich auf die oftmals neuen Dinge einzulassen, die sie zu bieten hat. Schließlich wollen wir Kunst und Kultur nicht banalisieren, im Vorbeigehen zeigen, quasi. Aber genau diesen Spagat schaffen eben viele der Kreativen in der Stadt, denen die IHK kein Fremdwort ist. Da tut sich schon relativ viel.“
Aus Sicht einer Start-up-Gründerin, die mit neuen Technologien im Kulturbereich arbeitet, hakt es aber ein entscheidender Stelle – der Vermittlung: „Was uns fehlt, ist es, Technologie zu erklären“, sagt Deberes. „Der Bereich wird immer komplexer. Was sind genetische Algorithmen beispielsweise? Oder wie funktioniert die Blockchain? Die Leute verstehen immer weniger. Das müssen sie andererseits auch gar nicht. Das Internet beispielsweise nutzt jeder, obwohl er es nicht versteht. Aber Technologie zu vermitteln, ist ein wesentlicher Aspekt.“
Und der spielt auch bei Greta & Starks eine große Rolle: Die nächste Entwicklung ist die Datenbrille Starks Glass. Das Headset soll auf einfache und kabellose Weise mit Augmented Reality arbeiten. Die Untertitel zum Film wirken dadurch so, als würden sie direkt auf die Leinwand projiziert. Der Erfolg der Produkte – die immerhin von 42.000 Blinden und Gehörlosen im deutschsprachigen Raum bisher bis zu 300.000 Mal genutzt werden – spricht für eine alte Start-up-Weisheit: Dass Nischenprodukte gefragt sind. „Gerade in der Nische entstehen viele neue Denkanstöße und Einblicke“, so Deberes.
Barrierefreiheit wird sexier
„Es soll selbstverständlich werden, dass wenigstens 80 Prozent aller Filme im Kino und aller sonstigen Inhalte im Fernsehen und auf den Streamingportalen untertitelt und mit Audiodeskription versehen werden“, findet Deberes. Greta & Starks könnte dazu beitragen, das Thema Inklusion in eine größere politische Debatte einzubinden. Das findet auch van Dülmen. „Vor 10 Jahren war es enorm schwer, Barrierefreiheit in Museen und anderen Kultureinrichtungen zu implementieren. Das Thema wirkte verstaubt, alle dachten nur an Rollstuhlfahrer. Heute wird es immer mehr zu einem Pluspunkt in der Kommunikation. Apps wie Greta & Starks leisten deshalb auch Öffentlichkeitsarbeit für das Thema, es wird sexier.“
Wenn Barrierefreiheit im öffentlich Diskurs „cooler“ wird, wo ist dann das Problem? Deberes sieht Barrieren in der EU-Politik: „EU-Fördermittel sind für die Unternehmen undurchsichtig“, sagt sie. „Eigentlich gibt es klare Richtlinien, doch am Ende steht trotzdem die Frage: Wer bekommt was und warum? Das könnte man noch transparenter machen, das ist eine gesetzliche Aufgabe.“ Daneben fühlt sie sich als Unternehmerin in Berlin „zwischen Kulturförderung, Filmförderung und Wirtschaftsförderung ganz gut unterstützt“.
Van Dülmen sieht die politischen Rahmenbedingungen wiederum als Prozess: „Der Politik muss es gelingen, diese sich wandelnde Welt besser zu realisieren. Natürlich ist es völlig normal, dass die Politik viel zu tun hat und nur mit Schnappatmung hinterherhecheln kann. Schon in ruhigeren Zeiten ist sie schon mehr als gefordert.“ Wieder das Thema Wahrnehmung also, „zu sehen, da sind nicht nur ein paar Spinner, sondern in der Kreativwirtschaft steckt ein ernstzunehmender volkswirtschaftlicher Wert.“
Dass die aktuellen Koalitionsverhandlungen, die Sondierungsgespräche, das Bangen um Neuwahlen nicht an erster Stelle die Förderung der Kreativwirtschaft und Kultur beachten können, hält van Dülmen zwar nicht für selbstverständlich, aber für erwartungsgemäß. „Wenn allerdings das größte Problem im Parlament ist, eine Maut einzuführen oder andere antiquierte Dinge, und gleichzeitig die reale Welt an den Politikern vorbeirennt, ist das eine große Gefahr für die Demokratie.“
Was wird also am Mittwoch bei Creative City Berlin am meisten gefeiert?
Fakt ist allerdings – und da findet Moritz van Dülmen klare Worte –, dass ein Portal wie CCB „keineswegs die analoge Welt ersetzen sollte. Gerade in heutigen Zeiten ist es wichtiger denn je, persönliche Beziehungen zu pflegen und Face-to-Face-Beratungen zu führen. Jeder, der in einer Telekom-Hotline steckt, sehnt sich doch auch nach einem Menschen, mit dem er von Angesicht zu Angesicht reden kann. Deshalb ist die Digitalisierung auch in manchen Bereichen eine Sackgasse. Aber auch hier kann Creative City Berlin helfen, Menschen persönlich zu vernetzen.“ Da ist es wieder: das Vernetzen.
Das Creative City Berlin-Jubiläum startet am heutigen Mittwoch um 16 Uhr mit Workshops zu kreativem Arbeiten und sozialen Projekten und Ideen. Ab 19 Uhr beginnt das Abendprogramm. Der Eintritt für Workshops und Abendprogramm ist frei. Weitere Informationen zum Jubiläum gibt es hier.