Marco biss die Zähne zusammen, hielt den Atem kurz an und presste die Lippen aufeinander. Er wollte nicht abbrechen. Nicht so kurz vor Schluss. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, rann in einem dünnen Rinnsal über seine Nasenwurzel und tropfte auf sein Handgelenk. Nur noch eine Minute und die qualvolle Prozedur war überstanden. Marco sah geradeaus und versuchte, sich abzulenken. Die breite Glasfront vor ihm gab den Blick frei auf einen malerischen Sonnenuntergang hinter dem Berggipfel gegenüber.
Fast vorbei
Ein letztes Mal hob sich der Arm der Maschine und dehnte sein linkes Bein. Dabei ächzte sie lauter als Marco stöhnte. Dann war es vorbei. „Ende der Einheit“, sagte eine freundliche Frauenstimme im Kopfhörer. „Gratulation, Sie sind heute 10 Kilometer gegangen.“ Marco seufzte und schälte sich aus seinem Overall, der mit den vier Armen der Laufmaschine verbunden war. Sein weißes Shirt klebte an seiner Haut. Sein kurzes schwarzes Haar war feucht. Marco nahm ein Handtuch und trocknete sich ab. Er ging einen Schritt auf die Glasfront zu und sah nach unten. Es musste kurz nach fünf Uhr sein, aber er hatte die Glocken noch nicht gehört. Vielleicht war auch die Decke schon geschlossen worden und dämpfte ihren Klang.
Im roten Licht des Sonnenuntergangs konnte er nicht erkennen, ob die dünne Glasschicht zwischen Berg und Tal – von allen „Decke“ genannt – schon durchgehend war, oder ob es noch gekippte Luken in der Mitte gab, damit frische Luft ins Tal strömen konnte. Tief unten im Schatten der Berge konnte er sie jedoch erkennen. Die Menschenschlangen, die sich durch die engen Straßen schoben. Wie Ameisen, die sich nur in eine Richtung fortbewegen konnten. Weil das Umkehren den sicheren Tod bedeuten würde. Er sah Lichter in der Ferne. Ein paar Tal-Bewohnern hatte man den Besitz der alten Benzin-Autos bewilligt. Sie mussten allerdings außerhalb der Dörfer leben und mindestens in zehn Kilometern Entfernung zur Decke. Alle anderen gingen zu Fuß.
Auf der Promenade
Marco stellte sich in die Duschkabine und ließ sich abbrausen. Danach zog er sich an, ging zum Lift und fuhr nach unten auf die Promenade. Die Kaffeehäuser rund um die Hauptstraße waren gut besucht, wie immer um diese Uhrzeit. Er stellte sich auf eines der Förderbänder, die quer durch die Stadt verliefen und die Bewohner bequem bis in die äußersten Winkel des Berges brachten. Wer es sich leisten konnte und ganz oben am Gipfel lebte, stieg in eine der Schwebebahnen um, von denen man einen guten Ausblick auf den Nachbarberg hatte.
Alle anderen nahmen das Band und die ganz Eiligen den Express, der in den Hauptstraßen direkt neben den Förderbändern verlief und aus einer Einpersonenkabine bestand, in die man sich setzte, um nach dem Angurten mit Hochgeschwindigkeit in einen anderen Stadtteil katapultiert zu werden. Kinder und Senioren durften den Express nicht nutzen. Ihnen könnte von der Geschwindigkeit übel werden. Auch Marco vermied ihn. Die vorbeirasende Landschaft löste Kopfschmerzen bei ihm aus. Am Wochenende gab es Gehgruppen, die jedoch schlecht gebucht waren, wie man den meisten Stadtbewohnern ansehen konnte. Marco erinnerte sich, unlängst einen Artikel über die Engpässe bei den Fettabsaugungen in der städtischen Klinik gelesen zu haben.
Magnetbeine
Der Großteil der Stadtbewohner, die ihm auf dem Band entgegengefahren kamen, war stark übergewichtig. Nur einige wenige trainierten wie er regelmäßig mit den Gehmaschinen im Mobilitätszentrum. Die meisten bewegten ihre Beine nur noch selten. Cremes gegen Durchblutungsstörungen und Massagen gegen Muskelschwund in den Schenkeln waren beliebt, retteten jedoch nur wenige vor der Beinoperation, in der Unter- und Oberschenkel durch Prothesen ersetzt wurden, die mit Magneten ausgestattet den perfekten Halt auf den Förderbändern der Bergstadt boten. Außerdem ließ sich mit ihnen nachts eleganter über die Glasdecke gleiten als mit den eigenen Beinen. Es war wie Schlittschuhfahren zwischen den Bergkuppen, Sommer wie Winter. Auch Marco, der stolz auf seine Beine war, hatte hier schon getanzt. Zu romantischen Klängen mit einer Frau im Arm, die er seit jener Nacht vor eineinhalb Jahren vermisste. Obwohl er ihre Entscheidung, freiwillig als Entwicklungshelfern nach „unten“ zu gehen, bis heute respektierte.
Klara
Er bewunderte Klara dafür. Trotzdem gab es keine Nacht in seinem Holzbett in den Gipfelappartements, in der er nicht an sie dachte. An das Lachen in ihrer Stimme, auch wenn über allem die Dunkelheit lag. An ihre Grübchen. An den Schalk in ihren Augen und ihre Lebensfreude. Klara hatte die bleichen Gesichter der Talbewohner nicht mehr ertragen, die manchmal durch die Decke zu sehen waren, wenn es ein paar bis ganz nach oben geschafft hatten. Sie wollte nicht länger zusehen, wie sie sich ans Glas pressten, bis man sie vertrieb. Denn es war strengstens verboten, sie durch die Luken hereinzulassen.
Man fürchtete ihre körperliche Überlegenheit und die Aggressivität, die durch die tägliche Bewegung entstanden war, wie einzelne Studien belegten. Als Marco an diesem Abend am Förderband durch die Stadt glitt, sah er es plötzlich wieder. Ein schmales bleiches Gesicht eines jungen Mädchens, das sich wohl tagelang nach oben gekämpft hatte und ihm ausgemergelt durch die Plexiglasscheibe entgegen blickte. Da war etwas in den Augen des Mädchens, das ihn fesselte. Das ihn an jemanden erinnerte, den er einmal gut gekannt hatte. Marco stolperte beinahe, als er das Band verließ. Magisch angezogen von den großen grünen Augen ging er zu der Stelle der Decke, an der sie stand. Er berührte sanft das Glas.
Ganz in der Nähe war eine Luke. Sein Blick traf den des Mädchens. Und ehe er sich versah, ehe er wusste, was er tat, griff seine Hand nach dem Schalter, der die Luke öffnen würde. Er sah nicht die Schatten, die hinter dem Mädchen auftauchten. Er hörte nicht die warnenden Rufe in seiner Nähe. Er bemerkte nicht den Alarm, der in diesem Moment ausgelöst wurde. Er sah nur das Mädchen, die junge Klara. Er öffnete die Luke.
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