Die Neurowissenschaften arbeiten sich seit Jahrzehnten durch das menschliche Gehirn. Erst langsam beginnen sie zu verstehen, warum wir funktionieren, und wie wir es eben tun. Nun könnte eine Studie endlich Licht ins Dunkel darüber bringen, warum unser Gehirn Erinnerungen erzeugt.
Wie das Gehirn Erinnerungen kreiert
Das menschliche Hirn hat es in sich. Es besitzt circa 100 Milliarden Nervenzellen, die durch mehr als 100 Billionen Synapsen miteinander verbunden sind. Dadurch können wir lieben, hassen, sprechen und sind als Spezies dazu in der Lage Dinge auf fremde Planeten zu schießen. Und trotzdem versteht die Wissenschaft nur langsam, wie unser Kopf funktioniert.
Nun soll eine Studie zeigen, wie unser Gehirn Erinnerungen erzeugt. Dem leitenden Neurowissenschaftler Ueli Rutishauser zufolge könnten die neusten Erkenntnisse auch Aufschlüsse darüber liefern, wie Erinnerungen funktionieren. Weiterhin glaube er durch seine Studie Mittel und Wege gefunden zu haben, Krankheiten wie Demenz vorzubeugen.
Dass sich die Hirnforschung vor allem auf den Bereich der Erinnerungen konzentriert, wird in Anbetracht steigender Demenzerkrankungen immer wichtiger. Wie der Deutschlandfunk berichtet, könnte sich die Zahl der an Demenz erkrankten Menschen bis zum Jahr 2050 verdreifachen. Gründe hierfür sehen Forschende vor allem in schlechten Angewohnheiten wie dem Genuss von Tabak und alkoholischen Getränken. Aber auch erhöhte Blutzuckerwerte und Übergewicht sollen dem Gehirn und somit den Nervenzellen schaden.
Lernen wie Gedächtnis funktioniert
Und doch könnte gerade die Funktionsweise der Erinnerungen wertvolle Erkenntnisse darüber liefern, wie künftig mit Demenzerkrankungen vorgebeugt werden könnten. Der Neurologe Rutishauser sieht eine Möglichkeit neue Ansätze in der Behandlung von Gedächtniskrankheiten zu entwickeln.
„Ein entscheidender Grund dafür, warum wir Menschen, die an einer Gedächtnisstörung leiden, nicht helfen können, ist, weil wir zu wenig darüber verstehen, wie das Gedächtnissystem funktioniert.“
Ueli Rutishauser via Neuroscience News.com
Dabei, so Rutishauser, seien Erinnerungen für die menschliche Existenz ein grundlegender Faktor. Zwar würden sich die Erfahrung aus einem kontinuierlichen Bewusstseinsstrom speisen, dennoch teile das Gehirn diesem Strom an Beobachtungen und Ereignisse in einzelne Teile auf. In der Neurowissenschaft spricht man daher von einer sogenannten Ereignissegmentierung.
Das Gehirn erkennt größere Unterschiede
Rutishauser und seine Kolleg*innen beobachteten 19 Versuchspersonen, die an medikamentenresistenter Epilepsie litten. Dabei sollten die Proband*innen unterschiedliche Filmszenen betrachten. Eine Szene sollte hierbei sogenannte „harte“ kognitive Grenzen aufweisen. In dieser fand demnach eine starke Veränderung der szenischen Umgebung statt, während die andere Filmsequenz eine „weiche“, also eine weniger veränderte Einstellung zeigte.
In der Realität verändern sich Umgebung und Situationen weniger schnell als in Filmen. Daher haben die meisten Menschen auch bereits am Folgetag ein Großteil dessen vergessen, was sie Tags zuvor erlebt haben. Die fließenden Übergänge des Alltags sind oft von „weichen“ kognitiven Grenzen gekennzeichnet.
„Der Unterschied zwischen weichen und harten Grenzen liegt in der Abweichung einer Erzählung“, erklärt Rutishauser dem Magazin Neuroscience News. So sei es für die Erzeugung von Erinnerungen für das Gehirn entscheidend, ob eine neue Geschichte erzählt, oder nur eine neue Szene derselben Erzählung beigefügt wird. Vereinfacht ausgedrückt: Erinnerungen entstehen immer durch größere Veränderungen.
Mentale Zeitmaschine
Die Untersuchungen zeigten, dass gerade bei den stärkeren Szenewechseln bestimmte Neuronen im Gehirn angeregt werden. Die Aktivität sogenannter „Grenzzellen“ erhöhte sich bei weichen wie harten kongnitiven Grenzen. Andere Neuronen jedoch, von den Wissenschaftler*innen als „Ereigniszellen“ bezeichnet, wiesen nur dann eine Aktivität auf, wenn sich die szenische Darstellung der gezeigten Filmclips bedeutend verändert hatte. Sie reagierten demnach nur auf harte Grenzen.
Rutishauser und seine Kolleg*innen erkannten, dass eine erhöhte, gleichzeitige Aktivität von Grenzzellen und Ereigniszellen nur eines bedeuten kann: Die Neuronen „zünden“; im Gehirn entsteht eine neue Erinnerung. Der Grund hierfür: Die kognitiv harte Grenze des gezeigten Filmmaterials löste bei den Studienteilnehmenden eine Grenzreaktion aus.
Folge auf diese Grenzreaktion ein weiteres, ähnlich intensives Erlebnis, würde eine neue neuronale Verbindung geschaffen und die ältere gespeicherte Grenzerfahrung geschlossen. Will jemand seine Erinnerungen abrufen, rege das wiederum die dazugehörigen Zellen des einstigen Erlebnisses an. Rutihauser spricht hierbei von einem „Anker für mentale Zeitreisen“. Laut dem Neurowissenschaftler vergleich das Gehirn die abzurufende Erinnerungen mit jenem Aktivitätsmuster, dass kurz nach dem Erleben die neuen Zellstrukturen geschaffen hat.
Entdeckung könnte Gedächtniskrankheiten vorbeugen
Rutihauser glaubt, dass die in der Studie gesammelten Erkenntnisse bei der Erforschung von Gedächtniskrankheiten helfen könnten. Die Ereignissegmentierung des Gehirns könnte in Zukunft neue Therapiemethoden ermöglichen. Der Studie nach könnte bereits eine kleine Veränderung genügen, um die Eventgrenzen zu erweitern. So kann bereits der Wechsel des Ortes die Gedächtnisleistung anregen, weil das Gehirn Erfahrungen in einer völlig neuen Umgebung abspeichert.
„Wenn du an einem neuen Ort lernst, an dem du nie zuvor gewesen bist, anstatt auf deiner Couch, wo dir alles vertraut ist, wirst du eine sehr viel stärkere Erinnerung erschaffen.“
Ueli Rutishauser via Neuroscience News.com
Fakt ist, der Mensch ist ganz offenkundig noch weit davon entfernt, sein eigenes Gehirn zu verstehen. Neue Erkenntnisse helfen der Forschung jedoch, zumindest in Ansätzen die komplexen Muster zu durchleuchten. So hat erst kürzlich eine neue Studie ein völlig neues Licht auf die menschliche Intelligenz geworfen.
Quellen: Deutschlandfunk, Neuroscience New.com
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