Videospiele sind ein Massenphänomen: Über 34 Millionen Deutsche haben im vergangenen Jahr auf PC, Konsolen und Smartphone gezockt, wie das Marktforschungsunternehmens GfK schreibt. Der Markt ist gigantisch: Hersteller setzten 2016 weltweit rund 100 Milliarden US-Dollar um – fast das Dreifache der Filmindustrie.
Videospielen haftet ein Makel an
Trotzdem haben Videospiele ein Imageproblem. Während Bildschirmmedien wie Film und Serie längst als Kunstform anerkannt sind und Brettspiele per se als pädagogisch wertvoll gelten, haftet Videospielen ein Makel an. In der öffentlichen Wahrnehmung gelten sie vielfach als Beschäftigung sozial isolierter Nerds. Dass sie eine angemessene, ja sogar sinnvolle Beschäftigung sein könnten – ausgeschlossen.
Eine der Ursachen dieser allgemeinen Wahrnehmung sei Ahnungslosigkeit, sagte Linda Breitlauch, Professorin für Game Design an der Hochschule Trier auf der „Fachkonferenz zur gesellschaftlichen Dimension von Video- und Computerspielen“, die im Sommer in Berlin stattfand. Kaum jemand wisse, was sich im Schatten der großen, populären Blockbuster wie der Actionspielreihe „Call of Duty“ oder den „Fifa“-Fußballspielen tue.
„Serious Games“
Typisches Beispiel seien die sogenannten Serious Games – Spiele also, die etwa auf einen Lerneffekt abzielen. Diese seien oftmals auf sehr spezielle Zielgruppen zugeschnitten und erreichten den typischen Gamer nur in Ausnahmefällen. Doch auch Spiele, die man eigentlich der reinen Unterhaltung zuordnen würde, werden zunehmend sinnvoll zweckentfremdet.
„Minecraft“ findet Weg in die Klassenzimmer
Besonders deutlich ist dieser Effekt bei „Minecraft“ zu beobachten: Im Klötzchenwelt-Spiel lassen sich nicht nur allerlei Bauwerke nachbilden, Spieler können damit komplexe Gebilde konstruieren, bis hin zum virtuell begehbaren und funktionsfähigen Computer. Rund um den Globus hat das Spiel deshalb längst seinen Weg in die Klassenzimmer gefunden.
Kunsthistoriker und Medienwissenschaftler Stephan Schwingeler sieht darin eine normale Entwicklung. Schwingeler ist Professor für Game Design an der Media-Akademie-Hochschule Stuttgart und hat täglich mit Fragen zur gesellschaftlichen Dimension von Videospielen zu tun: „Wir sehen zunehmend, dass Spiele, die eigentlich abseits vom Serious-Games-Diskurs stehen, dennoch diese Ideen transportieren und sich zu eigen machen.“
Spiele als künstlerische Arbeit?
Ein gutes Beispiel dafür sei das Spiel „Papers, please“. Darin übernimmt der Spieler die Rolle eines Grenzbeamten des fiktiven Staats Arstotzka und muss entscheiden, wen er an der Grenze abweist. Vorschriften, Zeitvorgaben und die Gefahr terroristischer Anschläge stellen den Spieler ständig vor schwere Entscheidungen. „Das ist kein Lernspiel, um auf die Grenzthematik hinzuweisen. Das ist in erster Linie eine künstlerische Arbeit, die auf einer Metaebene auch Aussagen über unseren gesellschaftlichen Status quo trifft“, so Schwingeler.
Tiefere Partizipation des Spielers
Gleichzeitig sei aber auch die Partizipation des Spielers eine andere, tief greifendere. Schwingeler: „Der Spieler bekommt das Gefühl, dass seine Handlungen innerhalb der Spielwelt und ihrer Regeln eine Bedeutung haben – und dieses Gefühl kann er auf seine eigenen Handlungen rückbeziehen.“ Denn bei allen Parallelen zum Medium Film – hier bestehe ein wesentlicher Unterschied: „Das ist ein mächtiger Wirkmechanismus, den man sich in Spielen zunutze machen kann – für Aufklärung, Aktivismus oder im schlimmsten Fall auch für perfide Propaganda.“
Weltweite Aufmerksamkeit für „Orwell“
Ein weiteres Spiel, das dieses Vermögen veranschaulicht, ist „Orwell“. Der Titel des kleinen Hamburger Entwicklerstudios Osmotic sorgte im vergangenen Jahr weltweit für Aufmerksamkeit, behandelt es doch ein ebenso aktuelles wie hochpolitisches Thema: Überwachung im digitalen Zeitalter. Ein Bildungsauftrag stand bei der Entstehung aber gar nicht im Vordergrund, wie Osmotic-Mitgründerin Melanie Taylor sagt: „Wir haben uns interessanterweise nie als Serious Game gesehen, obwohl wir jetzt den Deutschen Computerspielpreis als bestes Serious Game gewonnen haben. Uns war wichtig, Fragen über die Gesellschaft zu stellen. Aber wir wollten nicht die Moralkeule schwingen und dem Spieler sagen, was er zu denken hat. Wir wollten, dass der Spieler sich selbst Gedanken über dieses Thema macht, über das Preisgeben der eigenen Daten im Netz“, sagt Taylor. Und hier erreicht „Orwell“ spielerisch bei Nutzern mehr als alle pädagogischen Aufklärungskampagnen.
Videospiele öffnen sich und behandeln gesellschaftlich relevante Themen
Stephan Schwingeler sieht das Medium Videospiel an einem Wendepunkt: „Videospiele öffnen sich – einerseits für Themen mit gesellschaftlicher Relevanz und andererseits für künstlerische Prozesse.“
Und auch wenn es noch immer stumpfe Ballerspiele gibt, finden sich in den zahlreichen Nischen vermehrt Titel, die schlicht mehr sein wollen als ein unbedeutender Zeitvertreib. Oder wie Wojcek Setlak, Entwickler des Antikriegsspiels „This War of Mine“, beschreibt: „Vor hundert Jahren galt Film als geistlose Unterhaltung – schauen Sie, wie weit wir hier gekommen sind. Filme sind erwachsen geworden – und wir glauben, Spiele sind das mittlerweile auch.“
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