Kontroverse Inhalte locken immer wieder Schaulustige. Das kennt auch Netflix. Zu den Straßenfegern des Streaming-Dienstes zählte 2017 die kontrovers diskutierte Serie “Tote Mädchen lügen nicht” über Teenager-Suizid und die verheerenden Folgen einer Vergewaltigung. Da waren Aufrufe zum Verbot, zur Zensur oder zum Absetzen des Titels keine Seltenheit. Am 16.07.2019 gab Netflix nach und kürzte die Suizid-Szene von Hannah Baker. Die Juni 2020 veröffentlichte Staffel 4 von „Tote Mädchen lügen nicht“ blieb ohne Skandale aus. Anders bei diesen Netflix-Serien.
1. „Tote Mädchen lügen nicht“: Teenager-Suizid-Drama weckt Angst vor Angst vor Nachahmern
Der Aufruhr um „Tote Mädchen lügen nicht“ (im Original „13 Reasons Why“) ist kein seltenes Ereignis. Regelmäßig melden sich Sittenwächter aus verschiedenen Regionen der Welt zu Wort und wollen Netflix das Angebot bestimmter Inhalte untersagen. „Tote Mädchen lügen nicht“ ging 2017 an den Start.
Die Serien-Adaption des gleichnamigen Romans von Jay Asher behandelt zentral den Suizid der ausgegrenzten High-School-Schülerin Hannah Baker (Katherine Langford) und die Auswirkungen, die diese Tat auf ihre Mitschüler und Angehörigen hat. Dramatischer wird die Situation noch durch die Audiokassetten, auf denen Hannah ihre verstörenden Gründe für den Freitod dokumentiert, und die sie vor ihrem Ableben an ihre (dafür mitschuldigen) Mitmenschen verschickt hat.
Die Darstellung brutaler Highschool-Schikanen, von sexuellen Übergriffen und vor allem des Selbstmordes von Hannah empfanden Jugendschützer als zu grenzwertig. Vor allem weil das potentielle Publikum der Serie Teenager waren, die das Handeln unreflektiert nachahmen könnten. Auch die zweite Staffel, die 2018 folgte, bot kritisch aufgenommene Szenen wie die Vergewaltigung eines jungen Mannes durch einen anderen Mann.
Den zahlreichen Forderungen von Sittenwächtern nach einem Absetzen der Serie ist Netflix bisher nicht nachgekommen. Stattdessen haben sie Zusatzmaterial und Stellungnahmen der Darsteller gedreht, die um die Serie herum über die heiklen Themen der Serie aufklären. Am 16.07.2019 hat Netflix schließlich eingelenkt und die Selbstmordszene von Hannah Baker drastisch gekürzt.
2. Zuviel Alkohol und Knutscherei in “Dschinn”
Mit der gruseligen Thriller-Serie “Dschinn”, seit dem 13. Juni 2019 auch in Deutschland abrufbar, hat sich Netflix an seine erste arabische Eigenproduktion gewagt. In Jordanien sind die Zuschauer aber nicht so begeistert. Zahlreiche Netflix-Nutzer kritisieren im Internet, die Serie sei zu obszön und habe einen schlechten Einfluss auf Jugendliche.
Der oberste Staatsanwalt des Landes forderte gar die Abteilung für Internetkriminalität auf, die Ausstrahlung der Serie wegen moralisch angeblich fragwürdiger Szenen einzustellen. Die Handlung von “Dschinn” dreht sich um eine Gruppe von Schülern, die nach dem Besuch einer archäologischen Stätte von Geistern (arabisch: Dschinn) heimgesucht wird. Nicht die übernatürliche Story verstörte die Zuschauer, sondern die Darstellung der Jugendlichen: Exzessiver Alkoholgenuss und offene Knutschereien waren dem Publikum einfach zu viel.
Dagegen kann Jordaniens Medienkommission aber nichts machen, wie sie mitteilte. Sie hat lediglich die Kontrolle über im Fernsehen ausgestrahlte und im Kino gezeigte Inhalte in Jordanien. Da fällt Netflix als Streaming-Abo raus. Die Aufrufzahlen für „Jinn“ (so der englische Titel) sollten aber ob der kostenlosen Kontroverse besonders hoch ausfallen.
3. Nichts für Kinder: Sexuelle Freizügigkeit in der Zeichentrickserie „Big Mouth“
Selbst für Netflix, das sich mit Zeichentrickserien für Erwachsene wie „BoJack Horseman“ oder „F is for Family“ profiliert hat, war „Big Mouth“ ein riskantes Unterfangen. In der Animationsserie geht es um Pubertät und Teenagersex, serviert mit vulgärem Ekelhumor.
Auch wenn die Kritiker generell positiv gestimmt waren, gab es Vorwürfe, „Big Mouth” sei nichts für Kinder (das war laut Serienschöpfer Nick Kroll auch nie die Absicht) und sei zu liberal gegenüber nicht-heteronormativer Sexualität. Anspielungen auf Homosexualität und gar Pädophilie wurden kritisch beäugt. Trotz der Rufe nach Verbot der Serie gibt es inzwischen drei Staffeln der Hit-Serie.
4. Ist „Atypical” „ine Beleidigung für Autisten?
In “Atypical” geht es um den schwierigen Alltag eines jugendlichen Autisten und seiner liebevollen Familie. Doch die nicht sonderlich sensible Darstellung des Teenagers Sam Gardner (gespielt von Keir Gilchrist, Hauptdarsteller des Kult-Horrorfilms “It Follows”) fanden viele Zuschauer zu geschmacklos. Gerade Autistengruppen stießen sich an der zu humorvollen und nicht ganz realistischen Darstellung eines Autisten.
Die stereotype Inszenierung eines Autisten geriet noch mehr in Kritik, als herauskam, dass Serienschöpferin Robia Rashid und ihre Drehbuchautoren keine Autisten zu Rate zogen, bevor sie ihre Skripte verfassten. Doch auch hier wurden zwei weitere Staffeln gedreht und die Serie nicht abgesetzt.
5. Ist „Dear White People“ rassistisch gegenüber Weißen?
Auch an „Dear White People“, der Serie basierend auf dem gleichnamigen Independentfilm von Regisseur und Series Creator Justien Simien aus dem Jahre 2014, stießen sich die Zuschauer. Diesmal sogar ungesehen, weil sie allein schon den Titel der Serie als rassistisch gegenüber weißen Netflix-Nutzern ansahen.
Die coole, tragikomische Serie schildert den von lockeren Witzen und harten Debatten über angloamerikanische und afroamerikanische Identität geprägten Alltag an einem Ivy League College in den USA. Viele weiße Zuschauer empfanden aber den Trailer und den Titel der Sendung als rassistisch gegenüber Angloamerikaner. Wünsche nach einem Verbot der Sendung fielen bei Netflix aber auf taube Ohren. Eine dritte Staffel lief zuletzt auf Netflix.
6. Hat „Insatiable“ etwas gegen fette Menschen?
Auch der Trailer zu der Comedy-Serie „Insatiable“ regte die Nutzer auf. Kurz nach der Veröffentlichung des ersten Werbematerials zur neuen Serie hatten schon über 150.000 Internetnutzer eine Petition unterschrieben, um die Veröffentlichung auf Netflix zu verhindern.
Was brachte die Nutzer derart auf die Barrikaden? Es war die mit Sarkasmus vorgetragene Geschichte eines übergewichtigen jungen Mädchens namens Patty, die für ihre Aussehen gehänselt und schikaniert wird. Durch einige absurde Ereignisse verliert sie rasch ihr Gewicht und ist im Anschluss von Rachegelüsten an ihre früheren Peiniger getrieben. Hierfür beschließt sie eine Schönheitskönigin zu werden, mit allen Mitteln. Die Protestler sahen darin die Botschaft, dass wahre Schönheit nur mit Gewichtsverlust zu erreichen sei.
7. Der „Me Too“-Bewegung zuvorgekommen: So wurde „House of Cards“ gerettet
Im Zuge der Aufdeckungen rund um die „Me Too“-Bewegung wurden viele mächtige Männer der Nachrichten- und Unterhaltungsindustrie zu Fall gebracht. Darunter auch der zweifache Oscar-Gewinner und “House of Cards”-Star Kevin Spacey, dem zahlreiche sexuelle Übergriffe auf junge Männer vorgeworfen wurden. Um der Kontroverse aus dem Weg zu gehen, mussten einige Medienmacher schnell umdenken. So drehte etwa Ridley Scott alle Szenen mit Kevin Spacey für seinen damals noch nicht veröffentlichten Film „Alles Geld der Welt“ (2017) in Windeseile neu mit Ersatz-Schauspieler Christopher Plummer.
Und auch Netflix handelte schnell und feuerte Kevin Spacey von ihrer Hit-Serie „House of Cards“. Seine Hauptfigur Frank Underwood wurde abserviert und dessen Ehefrau Claire (Robin Wright) zur zentralen Figur der finalen Staffel der Serie erhoben. So konnte dem Shitstorm und den Aufrufen nach Verboten der Serie zuvorkommen.
8. Politikerbeleidung beendet fast den „Pate von Bombay“
„Der Pate von Bombay“ (Originaltitel: „Sacred Games“) war die erste große Netflix-Produktion für den indischen Markt, hochkarätig besetzt mit Bollywood-Star Saif Ali Khan. Die Adaption des gleichnamigen Romans von Vikram Chandra sorgte für unfreiwilligen Aufruhr als der Politiker Rajeev Kumar Sinha Netflix und Schauspieler Nawazuddin Siddiqui bei der Polizei anzeigte, weil letzterer in der Serie in seiner Rolle den verstorbenen Premierminister Rajiv Gandhi als “fattu” (übersetzt: Weichei) beleidigte. Auch andere Zuschauer stießen sich an der negativen Darstellung der indischen Stadt Bombay.
Schließlich musste Rajiv Gandhis Sohn und Parteivorsitzender Rahul Gandhi selbst eingreifen und seinen Parteikollegen Sinha von seinem Vorgehen abziehen. Er setzte sich damit für die Serie und die Meinungsfreiheit ein. So konnte ein Verbot der Serie abgewendet werden.
Das ist laut Netflix eine ihrer besten Serien. Diese Netflix-Alternative zieht jetzt in den Krieg gegen Netflix. Und diese Konkurrenten machen dem Streamer das Leben bald schwer.